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Wilhelm Meisters Wanderjahre - Kapitel 50 - Johann Wolfgang von Goethe
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Wilhelm Meisters Wanderjahre - Kapitel 50 Johann Wolfgang von Goethe

Wilhelm Meisters Wanderjahre - Kapitel 50 - Johann Wolfgang von Goethe
                                                                             Dienstags, den 16. Früh.

    Die Wanderung durch eine herrliche klare Nacht war voll Anmut und Erfreulichkeit; wir gelangten zu einer etwas größern Hüttenversammlung, die man vielleicht hätte ein Dorf nennen dürfen; in einiger Entfernung davon auf einem freien Hügel stand eine Kapelle, und es fing schon an, wohnlicher und menschlicher auszusehen. Wir kamen an Umzäunungen vorbei, die zwar auf keine Gärten, aber doch auf spärlichen, sorgfältig gehüteten Wieswachs hindeuteten. Wir waren an einen Ort gelangt, wo neben dem Spinnen das Weben ernstlicher getrieben wird.

    Unsere gestrige Tagereise, bis in die Nacht hinein verlängert, hatte die rüstigen und jugendlichen Kräfte aufgezehrt; der Garnbote bestieg den Heuboden, und ich war eben im Begriff, ihm zu folgen, als St. Christoph mir sein Reff befahl und zur Türe hinausging. Ich kannte seine löbliche Absicht und ließ ihn gewähren.

    Des andern Morgens jedoch war das erste, daß die Familie zusammenlief und den Kindern streng verboten ward, nicht aus der Türe zu gehen, indem ein greulicher Bär oder sonst ein Ungetüm in der Nähe sich aufhalten müsse, denn es habe die Nacht über von der Kapelle her dergestalt gestöhnt und gebrummt, daß Felsen und Häuser hier hüben hätten erzittern mögen, und man riet, bei unserer heutigen längeren Wanderung wohl auf der Hut zu sein. Wir suchten die guten Leute möglichst zu beruhigen, welches in dieser Einöde jedoch schwer erschien.

    Der Garnbote erklärte nunmehr, daß er eiligst sein Geschäft abtun und alsdann kommen wolle, uns abzuholen, denn wir hätten heute einen langen und beschwerlichen Weg vor uns, weil wir nicht mehr so im Tale nur hinabschlendern, sondern einen vorgeschobenen Gebirgsriegel mühsam überklettern würden. Ich entschloß mich daher, die Zeit so gut als möglich zu nutzen und mich von unsern guten Wirtsleuten in die Vorhalle des Webens einführen zu lassen.

    Beide waren ältliche Leute, in späteren Tagen noch mit zwei, drei Kindern gesegnet; religiose Gefühle und ahnungsvolle Vorstellungen ward man an ihrer Umgebung, Tun und Reden gar bald gewahr. Ich kam gerade zum Anfang einer solchen Arbeit, dem Übergang vom Spinnen zum Weben, und da ich zu keiner weitern Zerstreuung Anlaß fand, so ließ ich mir das Geschäft, wie es eben gerade im Gange war, in meine Schreibtafel gleichsam diktieren.

    Die erste Arbeit, das Garn zu leimen, war gestern verrichtet. Man siedet solches in einem dünnen Leimwasser, welches aus Stärkemehl und etwas Tischlerleim besteht, wodurch die Fäden mehr Halt bekommen. Früh waren die Garnstränge schon trocken, und man bereitete sich zu spulen, nämlich das Garn am Rade auf Rohrspulen zu winden. Der alte Großvater, am Ofen sitzend, verrichtete diese leichte Arbeit, ein Enkel stand neben ihm und schien begierig, das Spulrad selbst zu handhaben. Indessen steckte der Vater die Spulen, um zu zetteln, auf einen mit Querstäben abgeteilten Rahmen, so daß sie sich frei um perpendikulär stehende starke Drähte bewegten und den Faden ablaufen ließen. Sie werden mit gröberm und feinerm Garn in der Ordnung aufgesteckt, wie das Muster oder vielmehr die Striche im Gewebe es erfordern. Ein Instrument (das Brittli), ungefähr wie ein Sistrum gestaltet, hat Löcher auf beiden Seiten, durch welche die Fäden gezogen sind; dieses befindet sich in der Rechten des Zettlers, mit der Linken faßt er die Fäden zusammen und legt sie, hin und wider gehend, auf den Zettelrahmen. Einmal von oben herunter und von unten herauf heißt ein Gang, und nach Verhältnis der Dichtigkeit und Breite des Gewebes macht man viele Gänge. Die Länge beträgt entweder 64 oder nur 32 Ellen. Beim Anfang eines jeden Ganges legt man mit den Fingern der linken Hand immer einen oder zwei Fäden herauf und ebensoviel herunter und nennt solches die Rispe; so werden die verschränkten Fäden über die zwei oben an dem Zettelrahmen angebrachten Nägel gelegt. Dieses geschieht, damit der Weber die Fäden in gehörig gleicher Ordnung erhalten kann. Ist man mit dem Zetteln fertig, so wird das Gerispe unterbunden und dabei ein jeder Gang besonders abgeteilt, damit sich nichts verwirren kann; sodann werden mit aufgelöstem Grünspan am letzten Gang Male gemacht, damit der Weber das gehörige Maß wieder bringe; endlich wird abgenommen, das Ganze in Gestalt eines großen Knäuels aufgewunden, welcher die Werfte genannt wird.

                                                                                      Mittwoch, den 17.

    Wir waren früh vor Tage aufgebrochen und genossen eines herrlichen verspäteten Mondscheins. Die hervorbrechende Helle, die aufgehende Sonne ließ uns ein besser bewohntes und bebautes Land sehen. Hatten wir oben, um über Bäche zu kommen, Schrittsteine oder zuweilen einen schmalen Steg, nur an der einen Seite mit Lehne versehen, angetroffen, so waren hier schon steinerne Brücken über das immer breiter werdende Wasser geschlagen; das Anmutige wollte sich nach und nach mit dem Wilden gatten, und ein erfreulicher Eindruck ward von den sämtlichen Wanderern empfunden.

    Über den Berg herüber, aus einer andern Flußregion, kam ein schlanker, schwarzlockiger Mann hergeschritten und rief schon von weitem, als einer, der gute Augen und eine tüchtige Stimme hat: »Grüß' Euch Gott, Gevatter Garnträger!« Dieser ließ ihn näher herankommen, dann rief auch er mit Verwunderung: »Dank' Euch Gott, Gevatter Geschirrfasser! Woher des Landes? welche unerwartete Begegnung!« Jener antwortete herantretend: »Schon zwei Monate schreit' ich im Gebirg herum, allen guten Leuten ihr Geschirr zurechtzumachen und ihre Stühle so einzurichten, daß sie wieder eine Zeitlang ungestört fortarbeiten können.« Hierauf sprach der Garnbote, sich zu mir wendend: »Da Ihr, junger Herr, so viel Lust und Liebe zu dem Geschäft beweist und Euch sorgfältig drum bekümmert, so kommt dieser Mann gerade zur rechten Zeit, den ich Euch in diesen Tagen schon still herbeigewünscht hatte, er würde Euch alles besser erklärt haben als die Mädchen mit allem guten Willen; er ist Meister in seinem Geschäft und versteht, was zur Spinnerei und dergleichen gehört, vollkommen anzugeben, auszuführen, zu erhalten, wiederherzustellen, wie es not tut und es jeder nur wünschen mag.«

    Ich besprach mich mit ihm und fand einen sehr verständigen, in gewissem Sinne gebildeten, seiner Sache völlig gewachsenen Mann, indem ich einiges, was ich dieser Tage gelernt hatte, mit ihm wiederholte und einige Zweifel zu lösen bat; auch sagt' ich ihm, was ich gestern schon von den Anfängen der Weberei gesehen. Jener rief dagegen freudig aus: »Das ist recht erwünscht, da komm' ich gerade zur rechten Zeit, um einem so werten, lieben Herrn über die älteste und herrlichste Kunst, die den Menschen eigentlich zuerst vom Tiere unterscheidet, die nötige Auskunft zu geben. Wir gelangen heute gerade zu guten und geschickten Leuten, und ich will nicht Geschirrfasser heißen, wenn Ihr nicht sogleich das Handwerk so gut fassen sollt wie ich selbst.«

    Ihm wurde freundlicher Dank gezollt, das Gespräch mannigfaltig fortgesetzt, und wir gelangten, nach einigem Rasten und Frühstück, zu einer zwar auch unter- und übereinander, doch besser gebauten Häusergruppe. Er wies uns an das beste. Der Garnbote ging mit mir und St. Christoph nach Abrede zuerst hinein, sodann aber, nach den ersten Begrüßungen und einigen Scherzen, folgte der Schirrfasser, und es war auffallend, daß sein Hereintreten eine freudige Überraschung in der Familie hervorbrachte. Vater, Mutter, Töchter und Kinder versammelten sich um ihn; einem am Weberstuhl sitzenden, wohlgebildeten Mädchen stockte das Schiffchen in der Hand, das just durch den Zettel durchfahren sollte, ebenso hielt sie auch den Tritt an, stand auf und kam später, mit langsamer Verlegenheit ihm die Hand zu reichen. Beide, der Garnbote sowohl als der Schirrfasser, setzten sich bald durch Scherz und Erzählung wieder in das alte Recht, welches Hausfreunden gebührt, und nachdem man sich eine Zeitlang gelabt, wendete sich der wackere Mann zu mir und sagte: »Sie, mein guter Herr, dürfen wir über diese Freude des Wiedersehens nicht hintansetzen: wir können noch tagelang miteinander schnacken; Sie müssen morgen fort. Lassen wir den Herrn in das Geheimnis unserer Kunst sehen; Leimen und Zetteln kennt er, zeigen wir ihm das übrige vor, die Jungfrauen da sind mir ja wohl behülflich. Ich sehe, an diesem Stuhl ist man beim Aufwinden.« Das Geschäft war der jüngeren, zu der sie traten. Die ältere setzte sich wieder an ihren Webstuhl und verfolgte mit stiller, liebevoller Miene ihre lebhafte Arbeit.

    Ich betrachtete nun sorgfältig das Aufwinden. Zu diesem Zweck läßt man die Gänge des Zettels nach der Ordnung durch einen großen Kamm laufen, der eben die Breite des Weberbaums hat, auf welchen aufgewunden werden soll; dieser ist mit einem Einschnitt versehen, worin ein rundes Stäbchen liegt, welches durch das Ende des Zettels durchgesteckt und in dem Einschnitt befestigt wird. Ein kleiner Junge oder Mädchen sitzt unter dem Weberstuhle und hält den Strang des Zettels stark an, während die Weberin den Weberbaum an einem Hebel gewaltsam umdreht und zugleich achtgibt, daß alles in der Ordnung zu liegen komme. Wenn alles aufgewunden ist, so werden durch die Rispe ein runder und zwei flache Stäbe, Schienen, gestoßen, damit sie sich halte, und nun beginnt das Eindrehen.
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