Fünftes Kapitel
Auf dem Wege nach dem Schlosse fand unser Freund zu seiner Verwunderung nichts, was einem älteren Lustgarten oder einem modernen Park ähnlich gewesen wäre; gradlinig gepflanzte Fruchtbäume, Gemüsfelder, große Strecken mit Heilkräutern bestellt, und was nur irgend brauchbar konnte geachtet werden, übersah er auf sanft abhängiger Fläche mit einem Blicke. Ein von hohen Linden umschatteter Platz breitete sich würdig als Vorhalle des ansehnlichen Gebäudes, eine lange, daranstoßende Allee, gleichen Wuchses und Würde, gab zu jeder Stunde des Tags Gelegenheit, im Freien zu verkehren und zu lustwandeln. Eintretend in das Schloß, fand er die Wände der Hausflur auf eigene Weise bekleidet; große, geographische Abbildungen aller vier Weltteile fielen ihm in die Augen; stattliche Treppenwände waren gleichfalls mit Abrissen einzelner Reiche geschmückt, und in den Hauptsaal eingelassen, fand er sich umgeben von Prospekten der merkwürdigsten Städte, oben und unten eingefaßt von landschaftlicher Nachbildung der Gegenden, worin sie gelegen sind, alles kunstreich dargestellt, so daß die Einzelnheiten deutlich in die Augen fielen und zugleich ein ununterbrochener Bezug durchaus bemerkbar blieb.
Der Hausherr, ein kleiner, lebhafter Mann von Jahren, bewillkommte den Gast und fragte, ohne weitere Einleitung, gegen die Wände deutend: ob ihm vielleicht eine dieser Städte bekannt sei, und ob er daselbst jemals sich aufgehalten? Von manchem konnte nun der Freund auslangende Rechenschaft geben und beweisen, daß er mehrere Orte nicht allein gesehen, sondern auch ihre Zustände und Eigenheiten gar wohl zu bemerken gewußt.
Der Hausherr klingelte und befahl, ein Zimmer den beiden Ankömmlingen anzuweisen, auch sie später zum Abendessen zu führen; dies geschah denn auch. In einem großen Erdsaale entgegneten ihm zwei Frauenzimmer, wovon die eine mit großer Heiterkeit zu ihm sprach: »Sie finden hier kleine Gesellschaft, aber gute; ich, die jüngere Nichte, heiße Hersilie, diese, meine ältere Schwester, nennt man Juliette, die beiden Herren sind Vater und Sohn, Beamte, die Sie kennen, Hausfreunde, die alles Vertrauen genießen, das sie verdienen. Setzen wir uns!« Die beiden Frauenzimmer nahmen Wilhelm in die Mitte, die Beamten saßen an beiden Enden, Felix an der andern langen Seite, wo er sich sogleich Hersilien gegenüber gerückt hatte und kein Auge von ihr verwendete.
Nach vorläufigem allgemeinem Gespräch ergriff Hersilie Gelegenheit zu sagen: »Damit der Fremde desto schneller mit uns vertraut und in unsere Unterhaltung eingeweiht werde, muß ich bekennen, daß bei uns viel gelesen wird und daß wir uns, aus Zufall, Neigung, auch wohl Widerspruchsgeist, in die verschiedenen Literaturen geteilt haben. Der Oheim ist fürs Italienische, die Dame hier nimmt es nicht übel, wenn man sie für eine vollendete Engländerin hält, ich aber halte mich an die Franzosen, sofern sie heiter und zierlich sind. Hier, Amtmann Papa erfreut sich des deutschen Altertums, und der Sohn mag denn, wie billig, dem Neuern, Jüngern seinen Anteil zuwenden. Hiernach werden Sie uns beurteilen, hiernach teilnehmen, einstimmen oder streiten; in jedem Sinne werden Sie willkommen sein.« Und in diesem Sinne belebte sich auch die Unterhaltung.
Indessen war die Richtung der feurigen Blicke des schönen Felix Hersilien keineswegs entgangen, sie fühlte sich überrascht und geschmeichelt und sendete ihm die vorzüglichsten Bissen, die er freudig und dankbar empfing. Nun aber, als er beim Nachtisch über einen Teller Äpfel zu ihr hinsah, glaubte sie, in den reizenden Früchten ebenso viel Rivale zu erblicken. Gedacht, getan, sie faßte einen Apfel und reichte ihn dem heranwachsenden Abenteurer über den Tisch hinüber; dieser, hastig zugreifend, fing sogleich zu schälen an; unverwandt aber nach der reizenden Nachbarin hinblickend, schnitt er sich tief in den Daumen. Das Blut floß lebhaft; Hersilie sprang auf, bemühte sich um ihn, und als sie das Blut gestillt, schloß sie die Wunde mit englischem Pflaster aus ihrem Besteck. Indessen hatte der Knabe sie angefaßt und wollte sie nicht loslassen; die Störung ward allgemein, die Tafel aufgehoben, und man bereitete sich zu scheiden.
»Sie lesen doch auch vor Schlafengehn?« fragte Hersilie zu Wilhelm; »ich schicke Ihnen ein Manuskript, eine Übersetzung aus dem Französischen von meiner Hand, und Sie sollen sagen, ob Ihnen viel Artigeres vorgekommen ist. Ein verrücktes Mädchen tritt auf! das möchte keine sonderliche Empfehlung sein, aber wenn ich jemals närrisch werden möchte, wie mir manchmal die Lust ankommt, so wär' es auf diese Weise.«
Die pilgernde Törin
Herr von Revanne, ein reicher Privatmann, besitzt die schönsten Ländereien seiner Provinz. Nebst Sohn und Schwester bewohnt er ein Schloß, das eines Fürsten würdig wäre; und in der Tat, wenn sein Park, seine Wasser, seine Pachtungen, seine Manufakturen, sein Hauswesen auf sechs Meilen umher die Hälfte der Einwohner ernähren, so ist er durch sein Ansehn und durch das Gute, das er stiftet, wirklich ein Fürst.
Vor einigen Jahren spazierte er an den Mauern seines Parks hin auf der Heerstraße, und ihm gefiel, in einem Lustwäldchen auszuruhen, wo der Reisende gern verweilt. Hochstämmige Bäume ragen über junges, dichtes Gebüsch; man ist vor Wind und Sonne geschützt; ein sauber gefaßter Brunnen sendet sein Wasser über Wurzeln, Steine und Rasen. Der Spazierende hatte wie gewöhnlich Buch und Flinte bei sich. Nun versuchte er zu lesen, öfters durch Gesang der Vögel, manchmal durch Wanderschritte angenehm abgezogen und zerstreut.
Ein schöner Morgen war im Vorrücken, als jung und liebenswürdig ein Frauenzimmer sich gegen ihn her bewegte. Sie verließ die Straße, indem sie sich Ruhe und Erquickung an dem frischen Orte zu versprechen schien, wo er sich befand. Sein Buch fiel ihm aus den Händen, überrascht wie er war. Die Pilgerin mit den schönsten Augen von der Welt und einem Gesicht, durch Bewegung angenehm belebt, zeichnete sich an Körperbau, Gang und Anstand dergestalt aus, daß er unwillkürlich von seinem Platze aufstand und nach der Straße blickte, um das Gefolge kommen zu sehen, das er hinter ihr vermutete. Dann zog die Gestalt abermals, indem sie sich edel gegen ihn verbeugte, seine Aufmerksamkeit an sich, und ehrerbietig erwiderte er den Gruß. Die schöne Reisende setzte sich an den Rand des Quells, ohne ein Wort zu sagen und mit einem Seufzer.
»Seltsame Wirkung der Sympathie!« rief Herr von Revanne, als er mir die Begebenheit erzählte, »dieser Seufzer ward in der Stille von mir erwidert. Ich blieb stehen, ohne zu wissen, was ich sagen oder tun sollte. Meine Augen waren nicht hinreichend, diese Vollkommenheiten zu fassen. Ausgestreckt wie sie lag, auf einen Ellbogen gelehnt, es war die schönste Frauengestalt, die man sich denken konnte! Ihre Schuhe gaben mir zu eigenen Betrachtungen Anlaß; ganz bestaubt, deuteten sie auf einen langen zurückgelegten Weg, und doch waren ihre seidenen Strümpfe so blank, als wären sie eben unter dem Glättstein hervorgegangen. Ihr aufgezogenes Kleid war nicht zerdrückt; ihre Haare schienen diesen Morgen erst gelockt; feines Weißzeug, feine Spitzen; sie war angezogen, als wenn sie zum Balle gehen sollte. Auf eine Landstreicherin deutete nichts an ihr, und doch war sie's; aber eine beklagenswerte, eine verehrungswürdige.
Zuletzt benutzte ich einige Blicke, die sie auf mich warf, sie zu fragen, ob sie allein reise. ›Ja, mein Herr‹, sagte sie, ›ich bin allein auf der Welt.‹ – ›Wie? Madame, Sie sollten ohne Eltern, ohne Bekannte sein?‹ – ›Das wollte ich eben nicht sagen, mein Herr. Eltern hab' ich, und Bekannte genug; aber keine Freunde.‹ – ›Daran‹, fuhr ich fort, ›können Sie wohl unmöglich schuld sein. Sie haben eine Gestalt und gewiß auch ein Herz, denen sich viel vergeben läßt.‹
Sie fühlte die Art von Vorwurf, den mein Kompliment verbarg, und ich machte mir einen guten Begriff von ihrer Erziehung. Sie öffnete gegen mich zwei himmlische Augen vom vollkommensten, reinsten Blau, durchsichtig und glänzend; hierauf sagte sie mit edlem Tone: sie könne es einem Ehrenmanne, wie ich zu sein scheine, nicht verdenken, wenn er ein junges Mädchen, das er allein auf der Landstraße treffe, einigermaßen verdächtig halte: ihr sei das schon öfter entgegen gewesen; aber ob sie gleich fremd sei, obgleich niemand das Recht habe, sie auszuforschen, so bitte sie doch zu glauben, daß die Absicht ihrer Reise mit der gewissenhaftesten Ehrbarkeit bestehen könne. Ursachen, von denen sie niemand Rechenschaft schuldig sei, nötigten sie, ihre Schmerzen in der Welt umherzuführen. Sie habe gefunden, daß die Gefahren, die man für ihr Geschlecht befürchte, nur eingebildet seien und daß die Ehre eines Weibes, selbst unter Straßenräubern, nur bei Schwäche des Herzens und der Grundsätze Gefahr laufe.
Auf dem Wege nach dem Schlosse fand unser Freund zu seiner Verwunderung nichts, was einem älteren Lustgarten oder einem modernen Park ähnlich gewesen wäre; gradlinig gepflanzte Fruchtbäume, Gemüsfelder, große Strecken mit Heilkräutern bestellt, und was nur irgend brauchbar konnte geachtet werden, übersah er auf sanft abhängiger Fläche mit einem Blicke. Ein von hohen Linden umschatteter Platz breitete sich würdig als Vorhalle des ansehnlichen Gebäudes, eine lange, daranstoßende Allee, gleichen Wuchses und Würde, gab zu jeder Stunde des Tags Gelegenheit, im Freien zu verkehren und zu lustwandeln. Eintretend in das Schloß, fand er die Wände der Hausflur auf eigene Weise bekleidet; große, geographische Abbildungen aller vier Weltteile fielen ihm in die Augen; stattliche Treppenwände waren gleichfalls mit Abrissen einzelner Reiche geschmückt, und in den Hauptsaal eingelassen, fand er sich umgeben von Prospekten der merkwürdigsten Städte, oben und unten eingefaßt von landschaftlicher Nachbildung der Gegenden, worin sie gelegen sind, alles kunstreich dargestellt, so daß die Einzelnheiten deutlich in die Augen fielen und zugleich ein ununterbrochener Bezug durchaus bemerkbar blieb.
Der Hausherr, ein kleiner, lebhafter Mann von Jahren, bewillkommte den Gast und fragte, ohne weitere Einleitung, gegen die Wände deutend: ob ihm vielleicht eine dieser Städte bekannt sei, und ob er daselbst jemals sich aufgehalten? Von manchem konnte nun der Freund auslangende Rechenschaft geben und beweisen, daß er mehrere Orte nicht allein gesehen, sondern auch ihre Zustände und Eigenheiten gar wohl zu bemerken gewußt.
Der Hausherr klingelte und befahl, ein Zimmer den beiden Ankömmlingen anzuweisen, auch sie später zum Abendessen zu führen; dies geschah denn auch. In einem großen Erdsaale entgegneten ihm zwei Frauenzimmer, wovon die eine mit großer Heiterkeit zu ihm sprach: »Sie finden hier kleine Gesellschaft, aber gute; ich, die jüngere Nichte, heiße Hersilie, diese, meine ältere Schwester, nennt man Juliette, die beiden Herren sind Vater und Sohn, Beamte, die Sie kennen, Hausfreunde, die alles Vertrauen genießen, das sie verdienen. Setzen wir uns!« Die beiden Frauenzimmer nahmen Wilhelm in die Mitte, die Beamten saßen an beiden Enden, Felix an der andern langen Seite, wo er sich sogleich Hersilien gegenüber gerückt hatte und kein Auge von ihr verwendete.
Nach vorläufigem allgemeinem Gespräch ergriff Hersilie Gelegenheit zu sagen: »Damit der Fremde desto schneller mit uns vertraut und in unsere Unterhaltung eingeweiht werde, muß ich bekennen, daß bei uns viel gelesen wird und daß wir uns, aus Zufall, Neigung, auch wohl Widerspruchsgeist, in die verschiedenen Literaturen geteilt haben. Der Oheim ist fürs Italienische, die Dame hier nimmt es nicht übel, wenn man sie für eine vollendete Engländerin hält, ich aber halte mich an die Franzosen, sofern sie heiter und zierlich sind. Hier, Amtmann Papa erfreut sich des deutschen Altertums, und der Sohn mag denn, wie billig, dem Neuern, Jüngern seinen Anteil zuwenden. Hiernach werden Sie uns beurteilen, hiernach teilnehmen, einstimmen oder streiten; in jedem Sinne werden Sie willkommen sein.« Und in diesem Sinne belebte sich auch die Unterhaltung.
Indessen war die Richtung der feurigen Blicke des schönen Felix Hersilien keineswegs entgangen, sie fühlte sich überrascht und geschmeichelt und sendete ihm die vorzüglichsten Bissen, die er freudig und dankbar empfing. Nun aber, als er beim Nachtisch über einen Teller Äpfel zu ihr hinsah, glaubte sie, in den reizenden Früchten ebenso viel Rivale zu erblicken. Gedacht, getan, sie faßte einen Apfel und reichte ihn dem heranwachsenden Abenteurer über den Tisch hinüber; dieser, hastig zugreifend, fing sogleich zu schälen an; unverwandt aber nach der reizenden Nachbarin hinblickend, schnitt er sich tief in den Daumen. Das Blut floß lebhaft; Hersilie sprang auf, bemühte sich um ihn, und als sie das Blut gestillt, schloß sie die Wunde mit englischem Pflaster aus ihrem Besteck. Indessen hatte der Knabe sie angefaßt und wollte sie nicht loslassen; die Störung ward allgemein, die Tafel aufgehoben, und man bereitete sich zu scheiden.
»Sie lesen doch auch vor Schlafengehn?« fragte Hersilie zu Wilhelm; »ich schicke Ihnen ein Manuskript, eine Übersetzung aus dem Französischen von meiner Hand, und Sie sollen sagen, ob Ihnen viel Artigeres vorgekommen ist. Ein verrücktes Mädchen tritt auf! das möchte keine sonderliche Empfehlung sein, aber wenn ich jemals närrisch werden möchte, wie mir manchmal die Lust ankommt, so wär' es auf diese Weise.«
Die pilgernde Törin
Herr von Revanne, ein reicher Privatmann, besitzt die schönsten Ländereien seiner Provinz. Nebst Sohn und Schwester bewohnt er ein Schloß, das eines Fürsten würdig wäre; und in der Tat, wenn sein Park, seine Wasser, seine Pachtungen, seine Manufakturen, sein Hauswesen auf sechs Meilen umher die Hälfte der Einwohner ernähren, so ist er durch sein Ansehn und durch das Gute, das er stiftet, wirklich ein Fürst.
Vor einigen Jahren spazierte er an den Mauern seines Parks hin auf der Heerstraße, und ihm gefiel, in einem Lustwäldchen auszuruhen, wo der Reisende gern verweilt. Hochstämmige Bäume ragen über junges, dichtes Gebüsch; man ist vor Wind und Sonne geschützt; ein sauber gefaßter Brunnen sendet sein Wasser über Wurzeln, Steine und Rasen. Der Spazierende hatte wie gewöhnlich Buch und Flinte bei sich. Nun versuchte er zu lesen, öfters durch Gesang der Vögel, manchmal durch Wanderschritte angenehm abgezogen und zerstreut.
Ein schöner Morgen war im Vorrücken, als jung und liebenswürdig ein Frauenzimmer sich gegen ihn her bewegte. Sie verließ die Straße, indem sie sich Ruhe und Erquickung an dem frischen Orte zu versprechen schien, wo er sich befand. Sein Buch fiel ihm aus den Händen, überrascht wie er war. Die Pilgerin mit den schönsten Augen von der Welt und einem Gesicht, durch Bewegung angenehm belebt, zeichnete sich an Körperbau, Gang und Anstand dergestalt aus, daß er unwillkürlich von seinem Platze aufstand und nach der Straße blickte, um das Gefolge kommen zu sehen, das er hinter ihr vermutete. Dann zog die Gestalt abermals, indem sie sich edel gegen ihn verbeugte, seine Aufmerksamkeit an sich, und ehrerbietig erwiderte er den Gruß. Die schöne Reisende setzte sich an den Rand des Quells, ohne ein Wort zu sagen und mit einem Seufzer.
»Seltsame Wirkung der Sympathie!« rief Herr von Revanne, als er mir die Begebenheit erzählte, »dieser Seufzer ward in der Stille von mir erwidert. Ich blieb stehen, ohne zu wissen, was ich sagen oder tun sollte. Meine Augen waren nicht hinreichend, diese Vollkommenheiten zu fassen. Ausgestreckt wie sie lag, auf einen Ellbogen gelehnt, es war die schönste Frauengestalt, die man sich denken konnte! Ihre Schuhe gaben mir zu eigenen Betrachtungen Anlaß; ganz bestaubt, deuteten sie auf einen langen zurückgelegten Weg, und doch waren ihre seidenen Strümpfe so blank, als wären sie eben unter dem Glättstein hervorgegangen. Ihr aufgezogenes Kleid war nicht zerdrückt; ihre Haare schienen diesen Morgen erst gelockt; feines Weißzeug, feine Spitzen; sie war angezogen, als wenn sie zum Balle gehen sollte. Auf eine Landstreicherin deutete nichts an ihr, und doch war sie's; aber eine beklagenswerte, eine verehrungswürdige.
Zuletzt benutzte ich einige Blicke, die sie auf mich warf, sie zu fragen, ob sie allein reise. ›Ja, mein Herr‹, sagte sie, ›ich bin allein auf der Welt.‹ – ›Wie? Madame, Sie sollten ohne Eltern, ohne Bekannte sein?‹ – ›Das wollte ich eben nicht sagen, mein Herr. Eltern hab' ich, und Bekannte genug; aber keine Freunde.‹ – ›Daran‹, fuhr ich fort, ›können Sie wohl unmöglich schuld sein. Sie haben eine Gestalt und gewiß auch ein Herz, denen sich viel vergeben läßt.‹
Sie fühlte die Art von Vorwurf, den mein Kompliment verbarg, und ich machte mir einen guten Begriff von ihrer Erziehung. Sie öffnete gegen mich zwei himmlische Augen vom vollkommensten, reinsten Blau, durchsichtig und glänzend; hierauf sagte sie mit edlem Tone: sie könne es einem Ehrenmanne, wie ich zu sein scheine, nicht verdenken, wenn er ein junges Mädchen, das er allein auf der Landstraße treffe, einigermaßen verdächtig halte: ihr sei das schon öfter entgegen gewesen; aber ob sie gleich fremd sei, obgleich niemand das Recht habe, sie auszuforschen, so bitte sie doch zu glauben, daß die Absicht ihrer Reise mit der gewissenhaftesten Ehrbarkeit bestehen könne. Ursachen, von denen sie niemand Rechenschaft schuldig sei, nötigten sie, ihre Schmerzen in der Welt umherzuführen. Sie habe gefunden, daß die Gefahren, die man für ihr Geschlecht befürchte, nur eingebildet seien und daß die Ehre eines Weibes, selbst unter Straßenräubern, nur bei Schwäche des Herzens und der Grundsätze Gefahr laufe.
Comments (0)
The minimum comment length is 50 characters.