Tagesbuch Gerhard Schöne

Heut fang ich zum zweiten Mal ein Tagebuch an
Das erste hab ich irgendwann zerrissen
Ich schreib einfach, weil ich mich mal ausquatschen muss
Und Angst hab, das will gar keiner wissen
Meine Eltern haben mit sich selbst Ärger genug
Und für sie bin ich ja noch die Kleine
In der Klasse blödeln wir meistens nur rum
Und wenn’s ein Problem gibt, dann bin ich alleine
Die Mädels in meiner Klasse wissen bestens Bescheid
Über Frisuren und Klamotten. Und es gibt ständig Getratsch
Welche Jungs sie in der Hofpause angeguckt haben
Welche Gruppe in den Charts ist, und lauter so’n Quatsch
Soll ich da zu einer hingehen und sagen: „Du
Ich glaub, mein Herz ist gewachsen. Ich fühl plötzlich in
Mir so viel Liebe und Traurigkeit. Kennst du das auch?“
Die würde nur kichern: „Was isn mit dir?“

Wenn du 15 bist und dir das Herz fast überläuft
Aber keiner scheint das zu sehn
Bleibt dir manchmal nur das Tagebuch
Um nicht völlig durchzudrehn

In Geschichte hat neulich die Drechslern gefragt
Ob wir uns für’n offenes Gespräch interessieren
Ob uns vielleicht irgendwas auf den Nägeln brennt
Darüber könnte man ja dann diskutieren
Ich hab sie gefragt, warum das so schwer ist
Mit Reisen, zum Beispiel mal nach Paris
Da faucht die mich an, ich soll nicht provoziern
Und gab mir ´nen Eintrag, das fand ich echt fies
Dabei gibt’s in der Klasse fast keine wie mich
Die so auf den Sozialismus schwört
Doch ich finde, dass man über alles reden muss
Was einem nicht klar ist oder was einen stört
Auch Marx fand, dass Zweifeln eine Tugend ist
Doch die Drechslern will nur Disziplin
Bloß, wenn alle so tun, als sei alles schon klar
Ich frag mich: Wo komm wir dann hin?