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Wilhelm Meisters Wanderjahre - Kapitel 63 - Johann Wolfgang von Goethe
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Wilhelm Meisters Wanderjahre - Kapitel 63 Johann Wolfgang von Goethe

Wilhelm Meisters Wanderjahre - Kapitel 63 - Johann Wolfgang von Goethe
    Die Schöne-Gute, doppelt und dreifach ins Haus zurückgerufen, übergab mich einem verständigen, unterrichteten Manne, der mir die Merkwürdigkeiten des Gebirgs zeigen sollte. Wir gingen zusammen, bei schönstem Wetter, durch reich abwechselnde Gegenden. Aber man überzeugt sich wohl, daß weder Fels noch Wald, noch Wassersturz, noch weniger Mühlen und Schmiedewerkstatt, sogar künstlich genug in Holz arbeitende Familien mir irgendeine Aufmerksamkeit abgewinnen konnten. Indessen war der Wandergang für den ganzen Tag angelegt, der Bote trug ein feines Frühstück im Ränzel, zu Mittag fanden wir ein gutes Essen im Zechenhause eines Bergwerks, wo niemand recht aus mir klug werden konnte, indem tüchtigen Menschen nichts leidiger vorkommt als ein leeres, Teilnahme heuchelndes Unteilnehmen.

    Am wenigsten aber begriff mich der Bote, an welchen eigentlich der Garnträger mich gewiesen hatte, mit großem Lob meiner schönen technischen Kenntnisse und des besonderen Interesses an solchen Dingen. Auch von meinem vielen Aufschreiben und Bemerken hatte jener gute Mann erzählt, worauf sich denn der Berggenoß gleichfalls eingerichtet hatte. Lange wartete mein Begleiter, daß ich meine Schreibtafel hervorholen sollte, nach welcher er denn auch endlich, einigermaßen ungeduldig, fragte.

                                                                                    Sonntag, den 21.

    Mittag kam beinahe herbei, eh' ich die Freundin wieder ansichtig werden konnte. Der Hausgottesdienst, bei dem sie mich nicht gegenwärtig wünschte, war indessen gehalten; der Vater hatte demselben beigewohnt und, die erbaulichsten Worte deutlich und vernehmlich sprechend, alle Anwesenden und sie selbst bis zu den herzlichsten Tränen gerührt. »Es waren«, sagte sie, »bekannte Sprüche, Reime, Ausdrücke und Wendungen, die ich hundertmal gehört und als an hohlen Klängen mich geärgert hatte; diesmal flossen sie aber so herzlich zusammengeschmolzen, ruhig glühend, von Schlacken rein, wie wir das erweichte Metall in der Rinne hinfließen sehen. Es war mir angst und bange, er möchte sich in diesen Ergießungen aufzehren, jedoch ließ er sich ganz munter zu Bette führen; er wollte, sagte er, sich sammeln und den Gast, sobald er Kraft genug fühle, zu sich rufen lassen.«

    Nach Tische ward unser Gespräch lebhafter und vertraulicher, aber ebendeshalb konnte ich mehr empfinden und bemerken, daß sie etwas zurückhielt, daß sie mit beunruhigenden Gedanken kämpfte, wie es ihr auch nicht ganz gelang, ihr Gesicht zu erheitern. Nachdem ich hin und her versucht, sie zur Sprache zu bringen, so gestand ich aufrichtig, daß ich ihr eine gewisse Schwermut, einen Ausdruck von Sorge anzusehen glaubte, seien es häusliche oder Handelsbedrängnisse, sie solle sich mir eröffnen; ich wäre reich genug, eine alte Schuld ihr auf jede Weise abzutragen.

    Sie verneinte lächelnd, daß dies der Fall sei. »Ich habe«, fuhr sie fort, »wie Sie zuerst hereintraten, einen von denen Herren zu sehen geglaubt, die mir in Triest Kredit machen, und war mit mir selbst wohl zufrieden, als ich mein Geld vorrätig wußte, man mochte die ganze Summe oder einen Teil verlangen. Was mich aber drückt, ist doch eine Handelssorge, leider nicht für den Augenblick, nein! für alle Zukunft. Das überhandnehmende Maschinenwesen quält und ängstigt mich, es wälzt sich heran wie ein Gewitter, langsam, langsam; aber es hat seine Richtung genommen, es wird kommen und treffen. Schon mein Gatte war von diesem traurigen Gefühl durchdrungen. Man denkt daran, man spricht davon, und weder Denken noch Reden kann Hülfe bringen. Und wer möchte sich solche Schrecknisse gern vergegenwärtigen! Denken Sie, daß viele Täler sich durchs Gebirg schlingen, wie das, wodurch Sie herabkamen; noch schwebt Ihnen das hübsche, frohe Leben vor, das Sie diese Tage her dort gesehen, wovon Ihnen die geputzte Menge allseits andringend gestern das erfreulichste Zeugnis gab; denken Sie, wie das nach und nach zusammensinken, absterben, die Öde, durch Jahrhunderte belebt und bevölkert, wieder in ihre uralte Einsamkeit zurückfallen werde.

    Hier bleibt nur ein doppelter Weg, einer so traurig wie der andere: entweder selbst das Neue zu ergreifen und das Verderben zu beschleunigen, oder aufzubrechen, die Besten und Würdigsten mit sich fort zu ziehen und ein günstigeres Schicksal jenseits der Meere zu suchen. Eins wie das andere hat sein Bedenken, aber wer hilft uns die Gründe abwägen, die uns bestimmen sollen? Ich weiß recht gut, daß man in der Nähe mit dem Gedanken umgeht, selbst Maschinen zu errichten und die Nahrung der Menge an sich zu reißen. Ich kann niemanden verdenken, daß er sich für seinen eigenen Nächsten hält; aber ich käme mir verächtlich vor, sollt' ich diese guten Menschen plündern und sie zuletzt arm und hülflos wandern sehen; und wandern müssen sie früh oder spat. Sie ahnen, sie wissen, sie sagen es, und niemand entschließt sich zu irgendeinem heilsamen Schritte. Und doch, woher soll der Entschluß kommen? wird er nicht jedermann ebensosehr erschwert als mir?

    Mein Bräutigam war mit mir entschlossen zum Auswandern; er besprach sich oft über Mittel und Wege, sich hier loszuwinden. Er sah sich nach den Besseren um, die man um sich versammeln, mit denen man gemeine Sache machen, die man an sich heranziehen, mit sich fortziehen könnte; wir sehnten uns, mit vielleicht allzu jugendlicher Hoffnung, in solche Gegenden, wo dasjenige für Pflicht und Recht gelten könnte, was hier ein Verbrechen wäre. Nun bin ich im entgegengesetzten Falle: der redliche Gehülfe, der mir nach meines Gatten Tode geblieben, trefflich in jedem Sinne, mir freundschaftlich liebevoll anhänglich, er ist ganz der entgegengesetzten Meinung.

    Ich muß Ihnen von ihm sprechen, eh' Sie ihn gesehen haben; lieber hätt' ich es nachher getan, weil die persönliche Gegenwart gar manches Rätsel aufschließt. Ungefähr von gleichem Alter wie mein Gatte, schloß er sich als kleiner, armer Knabe an den wohlhabenden, wohlwollenden Gespielen, an die Familie, an das Haus, an das Gewerbe; sie wuchsen zusammen heran und hielten zusammen, und doch waren es zwei ganz verschiedene Naturen; der eine frei gesinnt und mitteilend, der andere in früherer Jugend gedrückt, verschlossen, den geringsten ergriffenen Besitz festhaltend, zwar frommer Gesinnung, aber mehr an sich als an andere denkend.

    Ich weiß recht gut, daß er von den ersten Zeiten her ein Auge auf mich richtete, er durfte es wohl, denn ich war ärmer als er; doch hielt er sich zurück, sobald er die Neigung des Freundes zu mir bemerkte. Durch anhaltenden Fleiß, Tätigkeit und Treue machte er sich bald zum Mitgenossen des Gewerbes. Mein Gatte hatte heimlich den Gedanken, bei unserer Auswanderung diesen hier einzusetzen und ihm das Zurückgelassene anzuvertrauen. Bald nach dem Tode des Trefflichen näherte er sich mir, und vor einiger Zeit verhielt er nicht, daß er sich um meine Hand bewerbe. Nun tritt aber der doppelt wunderliche Umstand ein, daß er sich von jeher gegen das Auswandern erklärte und dagegen eifrig betreibt, wir sollen auch Maschinen anlegen. Seine Gründe freilich sind dringend, denn in unsern Gebirgen hauset ein Mann, der, wenn er, unsere einfacheren Werkzeuge vernachlässigend, zusammengesetztere sich erbauen wollte, uns zugrunde richten könnte. Dieser in seinem Fache sehr geschickte Mann – wir nennen ihn den Geschirrfasser – ist einer wohlhabenden Familie in der Nachbarschaft anhänglich, und man darf wohl glauben, daß er im Sinne hat, von jenen steigenden Erfindungen für sich und seine Begünstigten nützlichen Gebrauch zu machen. Gegen die Gründe meines Gehülfen ist nichts einzuwenden, denn schon ist gewissermaßen zu viel Zeit versäumt, und gewinnen jene den Vorrang, so müssen wir, und zwar mit Unstatten, doch das gleiche tun. Dieses ist, was mich ängstigt und quält, das ist's, was Sie mir, teuerster Mann, als einen Schutzengel erscheinen läßt.«

    Ich hatte wenig Tröstliches hierauf zu erwidern, ich mußte den Fall so verwickelt finden, daß ich mir Bedenkzeit ausbat. Sie aber fuhr fort: »Ich habe noch manches zu eröffnen, damit meine Lage Ihnen noch mehr wundersam erscheine. Der junge Mann, dem ich persönlich nicht abgeneigt bin, der mir aber keineswegs meinen Gatten ersetzen noch meine eigentliche Neigung erwerben würde« – sie seufzte, indem sie dies sprach –, »wird seit einiger Zeit entschieden dringender, seine Vorträge sind so liebevoll als verständig. Die Notwendigkeit, meine Hand ihm zu reichen, die Unklugheit, an eine Auswanderung zu denken und darüber das einzige wahre Mittel der Selbsterhaltung zu versäumen, sind nicht zu widerlegen, und es scheint ihm mein Widerstreben, meine Grille des Auswanderns so wenig mit meinem übrigen haushältischen Sinn übereinzustimmen, daß ich bei einem letzten, etwas heftigen Gespräch die Vermutung bemerken konnte, meine Neigung müsse wo anders gefesselt sein.« – Sie brachte das letzte nur mit einigem Stocken hervor und blickte vor sich nieder.

    Was mir bei diesen Worten durch die Seele fuhr, denke jeder, und doch, bei blitzschnell nachfahrender Überlegung, mußt' ich fühlen, daß jedes Wort die Verwirrung nur vermehren würde. Doch ward ich zugleich, so vor ihr stehend, mir deutlich bewußt, daß ich sie im höchsten Grade liebgewonnen habe und nun alles, was in mir von vernünftiger, verständiger Kraft übrig war, aufzuwenden hatte, um ihr nicht sogleich meine Hand anzubieten. Mag sie doch, dachte ich, alles hinter sich lassen, wenn sie mir folgt! Doch die Leiden vergangener Jahre hielten mich zurück. Sollst du eine neue falsche Hoffnung hegen, um lebenslänglich daran zu büßen?

    Wir hatten beide eine Zeitlang geschwiegen, als Lieschen, die ich nicht hatte herankommen sehen, überraschend vor uns trat und die Erlaubnis verlangte, auf dem nächsten Hammerwerke diesen Abend zuzubringen. Ohne Bedenken ward es gewährt. Ich hatte mich indessen zusammengenommen und fing an, im allgemeinen zu erzählen: wie ich auf meinen Reisen das alles längst herankommen gesehen, wie Trieb und Notwendigkeit des Auswanderns jeden Tag sich vermehre; doch bleibe ein solches Abenteuer immer das Gefährlichste.
U    nvorbereitetes Wegeilen bringe unglückliche Wiederkehr; kein anderes Unternehmen bedürfe so viel Vorsicht und Leitung als ein solches. Diese Betrachtung war ihr nicht fremd, sie hatte viel über alle Verhältnisse gedacht, aber zuletzt sprach sie mit einem tiefen Seufzer: »Ich habe diese Tage Ihres Hierseins immer gehofft, durch vertrauliche Erzählung Trost zu gewinnen, aber ich fühle mich übler gestellt als vorher, ich fühle recht tief, wie unglücklich ich bin.« Sie hob den Blick nach mir, aber die aus den schönen, guten Augen ausquellenden Tränen zu verbergen, wendete sie sich um und entfernte sich einige Schritte.
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