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Wilhelm Meisters Wanderjahre - Kapitel 35 - Johann Wolfgang von Goethe
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Wilhelm Meisters Wanderjahre - Kapitel 35 Johann Wolfgang von Goethe

Wilhelm Meisters Wanderjahre - Kapitel 35 - Johann Wolfgang von Goethe
                                            Achtes Kapitel

    Suchen wir nun unsern seit einiger Zeit sich selbst überlassenen Freund wieder auf, so finden wir ihn, wie er von seiten des flachen Landes her in die pädagogische Provinz hineintritt. Er kommt über Auen und Wiesen, umgeht auf trocknem Anger manchen kleinen See, erblickt mehr bebuschte als waldige Hügel, überall freie Umsicht über einen wenig bewegten Boden. Auf solchen Pfaden blieb ihm nicht lange zweifelhaft, er befinde sich in der pferdenährenden Region, auch gewahrte er hie und da kleinere und größere Herden dieses edlen Tiers, verschiedenen Geschlechts und Alters. Auf einmal aber bedeckt sich der Horizont mit einer furchtbaren Staubwolke, die, eiligst näher und näher anschwellend, alle Breite des Raums völlig überdeckt, endlich aber, durch frischen Seitenwind enthüllt, ihren innern Tumult zu offenbaren genötigt ist.

    In vollem Galopp stürzt eine große Masse solcher edlen Tiere heran, sie werden durch reitende Hüter gelenkt und zusammengehalten. An dem Wanderer sprengt das ungeheure Gewimmel vorbei, ein schöner Knabe unter den begleitenden Hütern blickt ihn verwundert an, pariert, springt ab und umarmt den Vater.

    Nun geht es an ein Fragen und Erzählen; der Sohn berichtet, daß er in der ersten Prüfungszeit viel ausgestanden, sein Pferd vermißt und auf Äckern und Wiesen sich zu Fuß herumgetrieben; da er sich denn auch an dem stillen, mühseligen Landleben, wie er voraus protestiert, nicht sonderlich erwiesen; das Erntefest habe ihm zwar ganz wohl, das Bestellen hinterdrein, Pflügen, Graben und Abwarten keineswegs gefallen, mit den notwendigen und nutzbaren Haustieren habe er sich zwar, doch immer lässig und unzufrieden beschäftigt, bis er denn zur lebhafteren Reiterei endlich befördert worden. Das Geschäft, die Stuten und Fohlen zu hüten, sei mitunter zwar langweilig genug, indessen wenn man ein muntres Tierchen vor sich sehe, das einen vielleicht in drei, vier Jahren lustig davontrüge, so sei es doch ein ganz anderes Wesen, als sich mit Kälbern und Ferkeln abzugeben, deren Lebenszweck dahinaus gehe, wohl gefüttert und angefettet fortgeschafft zu werden.

    Mit dem Wachstum des Knaben, der sich wirklich zum Jüngling heranstreckte, seiner gesunden Haltung, einem gewissen frei-heitern, um nicht zu sagen geistreichen Gespräche konnte der Vater wohl zufrieden sein. Beide folgten reitend nunmehr eilig der eilenden Herde, bei einsam gelegenen weitläufigen Gehöften vorüber, zu dem Ort oder Flecken, wo das große Marktfest gehalten ward. Dort wühlt ein unglaubliches Getümmel durcheinander, und man wüßte nicht zu unterscheiden, ob Ware oder Käufer mehr Staub erregten. Aus allen Landen treffen hier Kauflustige zusammen, um Geschöpfe edler Abkunft, sorgfältiger Zucht sich zuzueignen. Alle Sprachen der Welt glaubt man zu hören. Dazwischen tönt auch der lebhafte Schall wirksamster Blasinstrumente, und alles deutet auf Bewegung, Kraft und Leben.
Unser Wanderer trifft nun den vorigen, schon bekannten Aufseher wieder an, gesellt zu andern tüchtigen Männern, welche still und gleichsam unbemerkt Zucht und Ordnung zu erhalten wissen. Wilhelm, der hier abermals ein Beispiel ausschließlicher Beschäftigung und, wie ihm bei aller Breite scheint, beschränkter Lebensleitung zu bemerken glaubt, wünscht zu erfahren, worin man die Zöglinge sonst noch zu üben pflege, um zu verhindern, daß bei so wilder, gewissermaßen roher Beschäftigung, Tiere nährend und erziehend, der Jüngling nicht selbst zum Tiere verwildere. Und so war ihm denn sehr lieb zu vernehmen, daß gerade mit dieser gewaltsam und rauh scheinenden Bestimmung die zarteste von der Welt verknüpft sei: Sprachübung und Sprachbildung.

    In dem Augenblick vermißte der Vater den Sohn an seiner Seite, er sah ihn zwischen den Lücken der Menge durch mit einem jungen Tabulettkrämer über Kleinigkeiten eifrig handeln und feilschen. In kurzer Zeit sah er ihn gar nicht mehr. Als nun der Aufseher nach der Ursache einer gewissen Verlegenheit und Zerstreuung fragte und dagegen vernahm, daß es den Sohn gelte: »Lassen Sie es nur«, sagte er zur Beruhigung des Vaters, »er ist unverloren; damit Sie aber sehen, wie wir die Unsrigen zusammenhalten«, stieß er mit Gewalt in ein Pfeifchen, das an seinem Busen hing, in dem Augenblick antwortete es dutzendweise von allen Seiten. Der Mann fuhr fort: »Jetzt lass' ich es dabei bewenden, es ist nur ein Zeichen, daß der Aufseher in der Nähe ist und ungefähr wissen will, wie viel ihn hören. Auf ein zweites Zeichen sind sie still, aber bereiten sich, auf das dritte antworten sie und stürzen herbei. Übrigens sind diese Zeichen auf gar mannigfaltige Weise vervielfältigt und von besonderem Nutzen.«

    Auf einmal hatte sich um sie her ein freierer Raum gebildet, man konnte freier sprechen, indem man gegen die benachbarten Höhen spazierte. »Zu jenen Sprachübungen«, fuhr der Aufsehende fort, »wurden wir dadurch bestimmt, daß aus allen Weltgegenden Jünglinge sich hier befinden. Um nun zu verhüten, daß sich nicht, wie in der Fremde zu geschehen pflegt, die Landsleute vereinigen und, von den übrigen Nationen abgesondert, Parteien bilden, so suchen wir durch freie Sprachmitteilung sie einander zu nähern.
Am notwendigsten aber wird eine allgemeine Sprachübung, weil bei diesem Festmarkte jeder Fremde in seinen eigenen Tönen und Ausdrücken genugsame Unterhaltung, beim Feilschen und Markten aber alle Bequemlichkeit gerne finden mag. Damit jedoch keine babylonische Verwirrung, keine Verderbnis entstehe, so wird das Jahr über monatweise nur eine Sprache im allgemeinen gesprochen, nach dem Grundsatz, daß man nichts lerne außerhalb des Elements, welches bezwungen werden soll.

    Wir sehen unsere Schüler«, sagte der Aufseher, »sämtlich als Schwimmer an, welche mit Verwunderung im Elemente, das sie zu verschlingen droht, sich leichter fühlen, von ihm gehoben und getragen sind; und so ist es mit allem, dessen sich der Mensch unterfängt.

    Zeigt jedoch einer der Unsrigen zu dieser oder jener Sprache besondere Neigung, so ist auch mitten in diesem tumultvoll scheinenden Leben, das zugleich sehr viel ruhige, müßig-einsame, ja langweilige Stunden bietet, für treuen und gründlichen Unterricht gesorgt. Ihr würdet unsere reitenden Grammatiker, unter welchen sogar einige Pedanten sind, aus diesen bärtigen und unbärtigen Centauren wohl schwerlich herausfinden. Euer Felix hat sich zum Italienischen bestimmt, und da, wie Ihr schon wißt, melodischer Gesang bei unsern Anstalten durch alles durchgreift, so solltet Ihr ihn in der Langweile des Hüterlebens gar manches Lied zierlich und gefühlvoll vortragen hören. Lebenstätigkeit und Tüchtigkeit ist mit auslangendem Unterricht weit verträglicher, als man denkt.«

    Da eine jede Region ihr eigenes Fest feiert, so führte man den Gast zum Bezirk der Instrumentalmusik. Dieser, an die Ebene grenzend, zeigte schon freundlich und zierlich abwechselnde Täler, kleine schlanke Wälder, sanfte Bäche, an deren Seite hie und da ein bemooster Fels hervortrat. Zerstreute, umbuschte Wohnungen erblickte man auf den Hügeln, in sanften Gründen drängten sich die Häuser näher aneinander. Jene anmutig vereinzelten Hütten lagen so weit auseinander, daß weder Töne noch Mißtöne sich wechselseitig erreichen konnten.

    Sie näherten sich sodann einem weiten, rings umbauten und umschatteten Raume, wo Mann an Mann gedrängt mit großer Aufmerksamkeit und Erwartung gespannt schienen. Eben als der Gast herantrat, ward eine mächtige Symphonie aller Instrumente aufgeführt, deren vollständige Kraft und Zartheit er bewundern mußte. Dem geräumig erbauten Orchester gegenüber stand ein kleineres, welches zu besonderer Betrachtung Anlaß gab; auf demselben befanden sich jüngere und ältere Schüler, jeder hielt sein Instrument bereit, ohne zu spielen; es waren diejenigen, die noch nicht vermochten oder nicht wagten, mit ins Ganze zu greifen. Mit Anteil bemerkte man, wie sie gleichsam auf dem Sprunge standen, und hörte rühmen: ein solches Fest gehe selten vorüber, ohne daß ein oder das andere Talent sich plötzlich entwickele.

    Da nun auch Gesang zwischen den Instrumenten sich hervortat, konnte kein Zweifel übrigbleiben, daß auch dieser begünstigt werde. Auf eine Frage sodann, was noch sonst für eine Bildung sich hier freundlich anschließe, vernahm der Wanderer: die Dichtkunst sei es, und zwar von der lyrischen Seite. Hier komme alles darauf an, daß beide Künste, jede für sich und aus sich selbst, dann aber gegen- und miteinander entwickelt werden. Die Schüler lernen eine wie die andre in ihrer Bedingtheit kennen; sodann wird gelehrt, wie sie sich wechselsweise bedingen und sich sodann wieder wechselseitig befreien.
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